Der Werwolf war’s!

Am anderen Morgen weckte ein Wohlgeruch die Gefährten. Nach den Kämpfen der letzten Nacht, mit einem toten Kapitän unter Deck, war der Duft nach frischgebratenem Speck das letzte, womit sie gerechnet hatten, aber es war wirklich ein köstliches Frühstück, das die Ochsenknechte da zubereitet hatten. Aber Urorn, Meraid und Talathel mochten sich trotzdem nicht mit dem Essen Aufhalten. Erst wollten sie, bei Tageslicht, nach dem Toten sehen, in der Annahme, dass das mit leerem Magen wahrscheinlich erfolgreicher ablaufen würde.

Eine erfolgreicher Heilkunde-Probe ergab: Was den Kapitän tödlich verletzt hatte, waren Klauen, lange Klauen von bestimmt fünfzehn Zentimetern Länge, viel länger als die Krallen der Fischmenschen. Auch ein Tier war es eher nicht: Alles war noch da, nichts angeknabbert oder verschleppt. Und was immer es war, es musste über gewaltige Körperkraft verfügen, denn es hatte Aldwic den Kopf mit brutaler Gewalt vom Körper gerissen. Das konnte, fand Meraid, nur eines bedeuten: Einen Werwolf! Aber wo sollte man mitten auf der Wallau einen Werwolf hernehmen? Hatten die Fischmenschen einen mitgebracht? Oder war vielmehr einer der Passagiere der Schuldige? Vielleicht Wigmund, der sich so demonstrativ in seiner Kabine verbarrikadiert hatte, als gelt es, um jeden Preis ein Alibi zu zementieren?

Den Hypothesen und wilden Verdächtigungen waren keine Grenzen gesetzt. Wie konnte es sein, dass Aldwic nicht geschrien hatte? Der einzige Schrei, den man in der Nacht an Bord gehört hatte, war eindeutig auf Mare, die verschleppte Zofe, zurückzuführen. Das musste doch heißen, dass Aldwic seinen Mörder gekannt hatte … oder geschlafen. Ja, auch das konnte sein. Und vielleicht war es auch kein Werwolf. Die Spurenlage war da sehr offen. Es gab halt diese Klauenspuren. Aber Wolfshaare hatte niemand in der Kabine gefunden, und auch wenn dort alles voller Blut war, hatte niemand sich die Mühe gemacht, sich mal nach Fußabdrücken umzuschauen.

Um zu ermöglichen, dass Aldwic nicht irgendwo im Wald anonym verscharrt werden musste, sondern heim zu seiner Ehefrau überführt werden konnte, sprach Urorn den Zauber »Sanfte Ruhe« auf die sterblichen Überreste des Kapitäns und verhinderte so, dass er zu schnell anfangen würde zu verwesen. Zumindest bis Südwacht sollte dieser Zauber, der auch eine Wiederbelebung des Mannes erleichtern würde, anhalten, und danach konnte Urorn ihn ja einfach nochmal sprechen.

Evy versuchte, sich mit der eher wortkargen Cere zu unterhalten, und fragte sie, ob die noch etwas von der reichen Dame gesehen hatte, aber nein, auch Cere hatte die seit dem nächtlichen Überfall noch nicht wieder getroffen. Die Gefährten beratschlagten sich und kamen zu dem Schluss, der Frau bis zum Mittag Zeit zu geben, wieder aufzutauchen, und dann nach ihr zu sehen – niemand war wirklich wild darauf, sie zu stören, nachdem sie in der Nacht auf Thorns Rettungsversuche doch ein bisschen ausfällig reagiert hatte. Aber dann fasste Evy sich doch ein Herz und klopfte an die Kabine der Dame.

Sie kam keine Sekunde zu früh. Die arme Frau war völlig mit den Nerven runter: Den ganzen Morgen wartete sie schon, und niemand war gekommen, um ihr beim Ankleiden zu helfen. Ein Skandal! Evy, die keine Erfahrungen als Zofe hatte und als Bardin zwar diverse Lieder darüber kannte, wie man eine Frau aus ihren Kleidern bekommen konnte, aber keine darüber, sie wieder anzuziehen, aber sie gab ihr bestes und band eine Schleife in die Korsage, dass der Frau das Kleid zumindest nicht weiter über die Schultern herunterrutschen konnte – da sich Evy zumindest ganz ordentlich aufs Fesseln und Entfesseln verstand, wird das auch für den Rest des Tages gehalten haben. So tauchte die Dame dann auch leicht zerzaust und grumpfig ob des Verlusts ihrer Zofe, beim Frühstücken auf.

Talathel trat noch mit einer Bitte an die Gefährten heran: Sie sollten in Südwacht noch zwei Tage auf ihn warten, ehe sie sich auf den Weg in Richtung des rätselhaft entvölkerten Holzfällerlagers machten, und vor allem sollten sie nicht ohne ihn versuchen, sich um Besuchervisa für das Erhabene Königreich Fallonde zu bemühen. Die würden sie brauchen, um dort die Terinav-Wurzeln zu pflücken, aber auch, um eventuell eine Spur oder einen Verdächtigen über die Grenze zu verfolgen, und da wollte Talathel ein Wort beim Botschafter einlegen können. Kerym’tal leuchtete ein, dass ein elfischer Fürsprecher da nicht schaden könnte, und willigte ein, Talathel diese zwei Tage zu geben, schließlich wollte der sich in der Zwischenzeit um die Befreiung der armen Zofe kümmern …

… oder auch nicht. Wie sich herausstellte, hatte Talathel nicht vor, im Alleingang Heldentaten zu begegnen. Er wollte nur auskundschaften, wie und wo die Fischmenschen ihr Lager hatten, um später die Rettung der Frau gemeinsam in Angriff zu nehmen. Er schien überhört zu haben, dass die Gefährten nicht vorhatten, dorthin zurückzukehren, ehe nicht sowohl die verschwundenen Holzfäller als auch das Blumenpflücken erledigt war, und die arme Mare würde sich wohl arg gedulden müssen, bis nach dieser Reihenfolge ihre eigene Rettung an die Reihe kam – aber das war ein Schuh, den Talathel sich anziehen musste, die Gefährten hatten doch ziemlich deutlich gemacht, dass die Rettung der Zofe und eine Begegnung mit riesenhaften, kopfabreißenden, riesenklauenbewerten Fischmenschen nicht geplant war.

Kerym’tal fragte noch nach den Möglichkeiten, sich in Fallonde häuslich niederzulassen – dass er sich unter Menschen unwohl fühlte und es ihn unter die Elfen zog, war kein so großes Geheimnis, aber er schien enttäuscht von Talathels Erklärung, dass so ein Fall gründlich geprüft werden müsste: Er hatte sich die Elfen irgendwie mit offeneren Armen, insbesondere gegenüber Halbelfen, vorgestellt. Da half wohl nichts: Um sich wirklich unter seinesgleichen und willkommen zu führen, würde Kerym’tal auf die Dauer sein eigenes Land gründen müssen, eines, in dem alle Halbelfen und andere Ausgestoßene sich willkommen fühlen würden.

Während Talathel zurückblieb, setzte das Schiff nun endlich seine Fahrt fort. Ochsenknecht Will übernahm das Ruder, und Evy nahm es auf sich, nach Untiefen Ausschau zu halten – nichts, was sie jemals vorher getan hätte, aber irgendjemand musste es tun, und der Rest der Gefährten hatte auch keine Ahnung vom Bootsfahren. Gemessen daran, machte Evy ihre Sache geht gut, das Boot kam zwar ein bisschen langsamer voran als unter Aldwics fachkundiger Führung, aber es kam voran, und es fuhr sich auch nicht im Boden des Flusses fest, also alles in Ordnung – und nebenbei fand Evy auch noch Zeit, sich weiterhin um die reiche Dame, deren Namen sie jetzt als Gauwyn Alar in Erfahrung gebracht hatte, zu kümmern.

Am dritten Tag nach dem Überfall erreichten die Gefährten dann auch endlich Südwacht, wo das Schiff auch schon sehnsüchtig erwartet wurde. Am Anlegesteg drängten sich die Leute, die wohl schon seit Stunden auf die Ankunft des Schiffes gewartet haben mussten: Darunter ein Mann mit würdevoller Kette, der so etwas wie der Bürgermeister sein musste; ein Mann in Handwerkskluft; ein gutgekleideter junger Mann; ein distinguierter älterer Herr, mutmaßlich der Vater des Jünglings; sowie ein schweigsam am Rand stehender Elf. Und diese Leute verstanden schnell, dass etwas nicht stimmen konnte. Warum war das Schiff so spät? Und vor allem – warum stand Will am Ruder? Wo war Aldwic? Fragen über Fragen, und die Gefährten waren nur zu bereit, sie auch zu beantworten.

Der junge Mann, Ædelmut, stellte sich schnell als der Verlobte der Frau Alar heraus, und wie die Gefährten auch schon geraten hatten, handelte es sich bei dem älteren Mann, Friedmut, um seinen Vater, und beide drängten sich vor, um zu erfahren, ob es der Braut auch gut ging. Derweil handelte der Mann mit der Kette – kein Bürgermeister, sondern der örtliche Gildenmeister, mit Uwe, nach Aldwics Ableben das ranghöchste Besatzungsmitglied, das Vertragliche aus – und dann kam der Mann zu den Gefährten und stellte die Frage, die niemand jemals auszusprechen wagte: Wer war ihr Anführer?

Kerym’tal wartete einen kurzen Moment, und als sich noch niemand gemeldet hatte, trat er vor. Schließlich ging es um die Bezahlung, und er war derjenige, der bis jetzt am vehementesten auf sein Geld gepocht hatte, denn ein eigenes Land für die Entrechteten würde sich schon nicht von selbst finanzieren, wenn man nicht rechtzeitig mit dem Sparen anfing. Der Gildenmeister akzeptierte die Erklärung und versuchte postwendend, Kerym’tal zur Minna zu machen: Wie konnten sie das zulassen, dass das Schiff überfallen wurde? Waren sie nicht da, um es zu bewachen? Und wenn sie wirklich so siegreich gekämpft hatten, wie Kerym’tal jetzt behauptete, wo waren dann die toten Gegner?

Aber Kerym’tal ließ das nicht auf sich sitzen. Er bot dem Gildenmeister an, ihm die Blutflecken an Deck zu zeigen, die von den besiegten Gegnern stammten, und fragte zurecht, ob sie tagelang mit toten Fischmenschen an Bord über den Fluss hätten fahren sollen. Dann führte er den Gildemeister in Aldwics Kabine, damit der sich dort ein Bild von der Lage machen konnte. Der Mann durchsuchte die Kabine, sperrte mit einem mitgebrachten Schlüssel Aldwics Truhe auf und entnahm ihr ein paar Papiere, und es war offenbar gut, dass niemand von den Gefährten, noch nicht einmal die mit den längeren Fingern, sich an den Sachen des Kapitäns vergriffen hatte. Dann wollte der Gildenmeister sich wieder davonmachen, aber so schnell ließ Kerym’tal ihn nicht gehen – erst das Geld!

Mürrisch reichte der Gildenmeister jedem der Gefährten sieben Silberstücke, eines für jeden Tag der Reise, aber Thorn, der als einziger den Vertrag auch gelesen hatte, schaffte seinen Intelligenzwurf und wies darauf hin, dass im Falle einer echten Gefahr das Gehalt verdoppelt werden sollte. So zahlte der Mann noch einmal jedem der Beteiligten sieben Silberstücke aus. Kein besonders reicher Lohn für eine Woche Arbeit, aber die Gefährten beschwerten sich nicht – der Rest des Abenteuers sollte doch deutlich lukrativer werden.

Am Ufer des Flusses stand immer noch der fragend dreinblickende Elf, bis Kerym’tal zu ihm hinging und ihm auf Elfisch seine Hilfe anbot. Der Elf, leicht überrumpelt, meinte, dass er auf jemanden wartete, und Kerym’tal, angesichts eines der von ihm bewunderten Elfen alles Misstrauen über Bord werfend, erklärte ihm ungefragt, dass Talathel erst in zwei Tagen aufschlagen würde, weil er den Fischmenschen gefolgt war. Ein klarer Fall von Too Much Information für den Elfen, noch dazu ohne Vorstellung von Seiten Kerym’tals – so nickte der Elf nur und ging seines Weges.

Ædelmut trug derweil seine Verlobte eigenhändig vom Boot – ein verkitschter Anblick, bei dem einem schon mal der Liebeskummer vergehen konnte, wie Kerym’tal Meraid zuflüsterte. Der Vater zahlte Evy für die geleistete Assistenz ein ganzes Goldstück und gab der Bardin einen ersten Anhaltspunkt, warum es die Zofe überhaupt so lang bei der Frau ausgehalten hatte. Dann trat Friedmut zu Kerym’tal, jetzt schließlich offizieller Anführer der Gruppe, und lud ihn im Vorbeigehen ein, dass sie doch mal in seinem Laden vorbeischauen sollten –

Und dann stellten die Spieler der Gefährten fest, wie spät es doch schon war, und der Abend nahm ein jähes Ende.

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