Für eine Handvoll Schnecken

Auf der Wallau, Frachtkahn, unter Deck. Mehrere Tage hatte Thorn in seiner Kabine verbracht und seine Unpässlichkeiten gepflegt – gemessen daran, dass er eigentlich nur einen gewaltigen Kater hatte, eine ziemlich lange Verschnaufpause – als ihn mitten in der Nacht ein schriller Schrei aus dem Schlaf riss. Sofort sprang er aus dem Bett, warf sich geistesgegenwärtig eine Magierrüstung über das Nachthemd, und ging nachschauen, wer da geschrien hatte. Es schien aus der Nachbarkabine zu kommen, und wirklich, dort wurde gerade Mare, die Zofe der reichen Dame, von zwei seltsam aussehenden Fischmenschen abtransportiert. Sie hatten ihr eine seltsame, transparente Kapuze über den Kopf gezogen, und dann ging es ab durch das Fenster. Was musste das Schiff auch so große Fenster haben? Hätten ein paar Bullaugen da nicht auch gereicht?

Thorn jedenfalls kam zu spät, um noch etwas für die Frau zu tun. Aber auch aus der Nebenkabine drang Kampfeslärm. Seinen Hammer im Anschlag, machte sich Thorn auf, nachzusehen – da kämpfte gerade Cere, die Abenteuerin, gegen einen weiteren Fischmenschen, während sich die eigentliche Bewohnerin der Kabine, die reiche Frau, angstvoll in eine Ecke duckte. Aber die Guteste sollte nicht das Schicksal ihrer Zofe teilen: Gemeinsam, mit Kurzschwert und Hammer, wurden Thorn und Cere mit dem fiesen Murloc fertig – zumindest so lange, bis oben an Deck deren Anführer das Signal zum Rückzug brüllte und der Murloc sich, wiederum mit einem Satz durchs Fenster, aus dem Staub machte.

Oben an Deck war der Kampf vorbei. Talathel sammelte seine heruntergefallene Waffe auf, Meraid ihren fallengelassenen Bogen, und während ein Halbdutzend toter Murlocs dort herumlagen und so schnell nicht wieder aufstehen würden, kümmerte sich Urorn um diejenigen seiner Gefährten, die nur geringfügig besser aussahen. Meraid blutete heftig, und auch Kerym’tal hatte es erwischt: Zum Glück verstand Urorn nicht nur einiges von Erster Hilfe, sondern hatte auch noch nicht viel gezaubert in dieser Nacht, so dass er jedem der beiden, nachdem er die erste Blutung gestillt und die Wunden, ganz im Sinne seines trinkfesten Gottes, mit Schnaps ausgewaschen hatte, noch einen Leicht Wunden Heilen-Zauber mitgeben konnte. Kerym’tal fluchte heftig, beteuerte aber, schon Schlimmeres mitgemacht zu haben. Evy hingegen saß, völlig verstört, an der gleichen Stelle, an der dieser gewaltige Murloc vor ihr aufgetaucht war, und starrte vor sich hin.

Unten wollte Thron der verängstigten Dame hilfreich zur Hand gehen, als die plötzlich verstand, dass da ein halbnackter Mann in ihrem Schlafzimmer stand – die Magierrüstung zählte da nicht – und begann, Zeter und Mordio zu schreien, bis Thron, auf einen Wink mit dem Zaunpfahl von Cere hin, die Kabine wieder verließ und schaute, ob sonst noch jemand seine Hilfe brauchen konnte. In der Kabine von Steinmetz Wigmund wurde schweres Gerät herumgerückt, als der Mann seine behelfmäßigen Barrikaden wieder abbaute: Er brauchte keine Hilfe, dank seiner schnellen Reaktion war er ungeschoren davongekommen. Aber Aldwic, der Kapitän, hatte da weniger Glück gehabt.

Als Thorn die Kabine am Ende des Ganges erreichte und die Tür öffnete, musste er erst einmal einen Schritt zurück machen, um seinen Mageninhalt bei sich zu halten, so erschreckend war der Anblick, der sich ihm bot. Jemand – etwas – hatte den Kapitän buchstäblich auseinandergerissen, sein Kopf lag an anderer Stelle als sein Körper, und überall war Blut. Da kam jede Hilfe zu spät. Und so machte sich Thron auf den Weg nach oben, um zu sehen, ob er da noch gebraucht wurde und auch, um Bescheid zu sagen, was mit Aldwic passiert war.

Aber da war nichts mehr zu tun, Urorn gerade mit dem Versorgen der Verwundeten fertig, und so machte sich der Kleriker mit dem Magier auf den Weg, den Tatort zu begutachten. Nein, da half auch kein Heilzauber mehr. Stattdessen machten sich die beiden an die Spurensicherung – CSI Orwin lässt grüßen. Beide hatten gesehen, wie die Angreifer aussahen – gedrungene, ungefähr mannsgroße Gestalten. Doch das, was da den Kapitän zerfetzt hatte, musste deutlich größer gewesen sein, um solchen Schaden anrichten zu können. Das sah eher nach einer Kreatur von zwei bis drei Metern Größe aus. Und so ein Overkill – so gewaltige Wunden – ein Verbrechen aus Leidenschaft, vielleicht?

Auch Kerym’tal und Meraid, die oben an Deck geblieben waren, um die toten Murlocs zu durchsuchen, fragten sich, was von diesem Überfall zu halten war. Was hatten die Fischmenschen gewollt? War das am Ende eine Auftragsarbeit? Ging es von Anfang an nur um den Kapitän? Um das Verschleppen der Zofe? Und sollten sie jetzt, trotz der Warnung, dass Mare dann gefressen werden würde, versuchen, den Murlocs zu folgen? Die toten Gegner trugen nichts bei sich, das auch nur entfernt von Wert gewesen wäre. Hier ein Messer, da ein leerer Sack – aber wie ein Raubüberfall sah das wirklich nicht aus. Und während Kerym’tal weiter vor sich hin fluchte – diesmal, weil die Fischmenchen keinerlei lohnende Beute verloren hatten – dämmerte ihm das eigentliche Ausmaß des Überfalls: Wenn der Kapitän jetzt tot war, würde man die Gefährten überhaupt noch für ihre Arbeit bezahlen?

Thorn machte sich daran, sich mit den Ochsenknechten zu unterhalten, und spielte seinen Charismamalus überzeugend aus. Die waren nämlich nach dem Überfall ziemlich neben der Spur, mussten ihre verängstigten Tiere beruhigen und schauen, wie es nun weitergehen sollte, und waren echt nicht auf Smalltalk aus. Will beklagte, dass Aldwic keinen zweiten Steuermann mitgenommen hatte, jemand, der sich darauf verstand, das Boot in der Spur zu halten und an den Untiefen vorbeizunavigeren, und erklärte sich seufzend bereit, die Steuerung zu übernehmen – irgendjemand musste das ja übernehmen.

An Bord versuchte derweil Kerym’tal mit für ihn ungewohnter Freundlichkeit, die offenbar unter Schock stehende Evy aufzumuntern. Und endlich kam ihm auch ein bedauerndes Wort über das unzeitige Ableben des Kapitäns über die Lippen. Evy meinte, die könnte versuchen, das Schiff zu steuern – sie hatte viel Zeit damit verbracht, dem Kapitän zuzusehen – fürchtete aber, dafür nicht stark genug zu sein. Obwohl für einen Gnom deutlich überdurchschnittlich stark, litt die Bardin unter der ständigen irrigen Annahme, dass klein zu sein auch schwach zu sein bedeuten würde, verglichen mit den großen Leuten, die sie da begleiteten, und auch wenn sie über keinerlei Stärkemalus verfügte, hielt sie sich der Aufgabe für nicht gewachsen.

Aber gleich konnte sie zeigen, wie viel Schmackes in ihr steckte. Es galt nämlich, die toten Fischmenschen über Bord zu werfen, bevor die anfangen würden zu stinken – auch wenn Meraid fürchtete, sie könnten dann Aggressive Aale anziehen – und um die Toten über die Reling zu wuchten, mussten sie alle mitanpacken: Zwar war Kerym’tal ein zähes Scheißerchen und durchaus wendig, aber gemessen am Barbarendurchschnitt ziemlich schlecht aufgestellt, wo es um rohe Körperkraft ging, und war selbst nur geringfügig stärker als die Bardin. Aber gemeinsam ist man stark, und so gingen die toten Murlocs einer nach dem anderen über Bord –

Was war das? Da stiegen seltsame Blasen auf, und das Wasser begann zu leuchten! Kerym’tal, als ob er an diesem Tag noch nicht genug geflucht hätte, vermutete, dass sie doch einen wertvollen magischen Schatz am Körper des Murlocs übersehen hatten, und wollte schon, ungeacht der Tatsache, dass er nicht schwimmen konnte, hinterherspringen. Zum Glück wollte er sich vorher noch geistesgegenwärtig sein Kettenhemd ausziehen, und das gab den anderen die Gelegenheit, ihm diese Dummheit wieder auszureden. Stattdessen durchsuchten sie den letzten an Bord verbliebenen Murloc mit ungesehener Gründlichkeit und wurden tatsächlich fündig: eingerollt in ein großes Blatt, fanden sie eine Reihe kleiner Schnecken, die bei Berührung mit dem Wasser zu leuchten begannen. Offenbar hatten sie die Taschenlampe der Murlocs gefunden.

Evy fiel eine dramatische Ballade über das Leuchten des Meeres ein, aber von allen dreihundertsiebzig Strophen sang sie nur ein paar Auszüge, wofür ihr alle Anwesenden dankten. Weil die Schnecken offensichtlich kein Geld wert waren und auch nicht magisch, gab Kerym’tal sie zum Abschuss frei, und Meraid und Evy steckten sie ein – man weiß ja nie, wann man nicht mal ein paar Unterwasser leuchtende Schnecken brauchen kann!

Es war immer noch tief in der Nacht und eigentlich Zeit, schlafen zu gehen, um am anderen Tag mit neuer Kraft … ja was denn nun? Die Gefährten waren sich uneinig. Sie waren Helden, und das verlangte ja eigentlich, den Murlocs zu folgen und die arme Zofe zu befreien. Nur, wie verfolgt man eine Spur durchs Wasser? Evy, die mit Tieren sprechen kann, erwog, mit den Schnecken zu sprechen, und entschied sich dann dagegen, weil auch eine sprechende Schnecke nur den geistigen Horizont eines Weichtiers hat. Stattdessen einen Fisch fragen? Dafür muss man erst einmal einen fangen, und wie mitteilsam der dann ist … Egal. Hat Zeit für morgen. Im Hellen konnten sie immer noch weitersehen, Fische fangen, schauen, wo die Murlocs geblieben waren – oder die Sache auf sich beruhen lassen.

Ja, die Sache auf sich beruhen lassen wurde immer attraktiver. Zum einen betonte Ochsenknecht Will und neuer Steuermann, nicht da bleiben zu wollen, sondern weitzuschippern, und die Gefährten waren doch immer noch die offiziellen Bootswachen bis zur Ankunft in Südwacht. Zum anderen war Mare zwar verschleppt worden, aber – hier lässt das Trolley-Problem grüßen – nur eine einzelne Person, während bei Südwacht nicht weniger als fünfzig Holzfäller und deren Angehörige verschwunden waren, deren Chancen auch nicht größer wurden davon, dass ihre Retter sich auf andere Herausforderungen stürzten.

Aber das vielleicht Ausschlaggebende, weswegen die fünf Gefährten sich dagegen entschieden, sich an die Befreiung der Zofe zu machen, war ein Blick auf die Charakterbögen. Ist irgendwer hier rechtschaffen gut? Höhnisches Gelächter füllte den Raum. Diese Gruppe hat keinen Paladin in ihren Reihen. Ist … ist hier überhaupt jemand gut? Auf das Lachen folgte betretenes Schweigen. Niemand in dieser Gruppe ist auch nur von guter Gesinnnung. Oder von böser. Sie sind alle neutral, und, von Thron abgesehen, haben eine Tendenz zum Chaos. Natürlich, sie haben alle das Herz am rechten Fleck. Aber das reicht nicht aus, um alles stehen und liegen zu lassen. Schließlich erklärte sich Talathel bereit, sich um die Befreiung der Zofe zu kümmern oder das zumindest zu versuchen.

So trennen sich hier die Wege der Gefährten und ihres elfischen Begleiters. Und nächste Woche, wenn hoffentlich alle wieder etwas fitter sind, geht es dann weiter in Richtung Südwacht. Die Holzfäller warten!

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