Steinmaus und Schatten

Zwerge sind immer für das eine oder andere Klischee gut, selbst wenn sie so aus der Art geschlagen scheinen wie Thorim. Alles in ihrem Leben scheint sich um die drei B’s zu drehen: Bärte, Bier und Bergbau. Und hier sollte es jetzt der Bergbau sein. Tiefwasser, als unsere Pfadfinder es endlich betraten, sah auf dem ersten Blick aus wie jede andere Binge – nicht, daß die meisten schon mal in einer gewesen wären. Aber von den reichen Schätzen war erst einmal nichts zu sehen. Verlassene Stollen, mit schwerem Gerät ins Gestein geschlagen, und nirgendwo auch nur eine Hauch von Gold oder Edelsteinen. Aber man wurde ja auch nicht Abenteurer, um es einfach zu haben: Sonst hätten sie ja auch gleich einer ehrlichen Arbeit nachgehen können. Immerhin waren sie motiviert, und daß Kevron sofort brav mit dem Kartographieren anfing, war vielleicht ein Ausgleich dafür, daß er sonst gerne darauf verzichtete, mit anzupacken.

Sargas und Thorim suchten nach Fallen – sicher ist sicher – aber was sie statt dessen fanden, war eine Maus. Sie war aus Stein, und abgesehen davon, daß ihr wohl der Schwanz abgebrochen war, war sie liebevoll und detailgenau gearbeitet, vom Schnurbart über feinste Häärchen. Tatsächlich war sie eine Spur zu detailgenau gearbeitet. Auch wenn Kevron versuchte, ihren Wert als Kunstobjekt zu schätzen, wußten sie doch alle, daß diese Maus vor nicht allzu langer Zeit noch gepiepst hatte. Und die weiteren Steintiere, die im Verlauf des Ganges auftauchten, Mäuse, Ratten, alle mit Beschädigungen, die ebensogut vor der Versteinerung entstanden sein mochten, sprachen eine deutliche Sprache und erzählten die Geschichte von einem, der in dieser Binge lebte und das, was ihm über den Weg lief, in Stein verwandelte.

Prinzipiell gab es drei Möglichkeiten, wer oder was es sein konnte: Da die vierte Option, die Gorgone, ausschied, weil sie nicht in die Gänge gepaßt hätte, blieben nur ein Basilisk, ein Cockatrice, und ein auf Verwandlung spezialsierter Magier mit Angst vor Mäusen.
“Wovon soll ein Magier denn hier leben, mitten in den Bergen?”
“Dann ist es eben ein untoter Magier!”
“Sicher, mit Angst vor Mäusen…”

So entschied sich die Mehrheit für den Basilisken, der von allen Möglichkeiten am Besten in ein Bergwerk paßte – der Cockatrice, der legendäre Drachenhahn, wollte sicher eine Möglichkeit haben, unter freiem Himmel zu fliegen, und in der steinernen Tiefe kreuzunglücklich werden. Basilisken versteinern durch ihrem Blick, und von Spiegelschilden über Augenbinden bis hin zur Verwandlung in ein Geschöpf, das keine Augen hat und sich mit Blindsicht orientiert, waren die Helden bereit, alles auszuprobieren, was in ihrer Macht stand. Also wegschauen – die anderen Sachen standen nicht oder noch nicht zur Verfügung. Aber immerhin, sie waren gewarnt und wußten, was sie erwartete. Nur daß es gar kein Basilisk war…

Der Gang der versteinerten Tiere führte sanft bergauf, bergauf, bergauf, und endete schließlich in einem Raum, der offen auf den Berggipfel mündete. Doch die Gefährten waren nicht da, um die Aussicht zu genießen – zwischen ihnen und dem freien Himmel war ein Nest. Und alle Argumente, die zuvor für den Basilisken und gegen den Cockatrice gesprochen hatten, waren nun widerlegt. Basislisken bauten keine solchen Nesten. Und sie machten sich auch nicht mit einer Mischung aus Fauchen und Krähen bemerkbar. Und sie hatten auch keine Flügel zum Spreizen, wenn sie zum Angriff übergingen. Nein, das war ein Cockatrice, oder, wie er im weiteren Verlauf genannt werden sollte: Gockel. Ein Tier, das nicht mit seinem Blick versteinerte, sondern mit seinem Biß. Ein Tier, wo es nicht half, mit geschlossenen Augen zu kämpfen und sich nach Gehör und Geruch zu orientieren. Ein Tier, das man nicht zum Gegner haben wollte. Und so entschied sich die Gruppe zum taktisch einzig Klugen: Dem Rückzug.

Während sie Nägel mit Köpfen machten und mit Holz und Werkzeug aus dem Orklager den Zugang zum Gockelhort vernagelten, um sich auch für die Zukunft vor unliebsamen Überraschungen zu schützen, kamen die Pfadfinder nicht umhin, sich zu fragen, wie sich denn ein Tier ernähren sollte, dessen Opfer beim Zubeißen zu Stein wurden. War der Cockatrice am Ende doch ein Vegetarier? Oder hatte er eine ultrastrarke Magensäure, die in der Lage war, selbst Stein zu verdauen, und würgte am steinernen Stück hinunter, was immer durch den ausgerenkten Schnabel paßte? Bei allem Interesse und wissenschaftlichem Anspruch wollten sie es dann doch nicht so genau wissen. Dann war eben dieser Teil der Binge für weitere Erkundungen gestorben. Die wahren Schätze ruhten ohnehin in der Tiefe, und der Weg dorthin war klar: Da war dieser große tiefe Schacht, in dem zwar das Wasser stand, aber erst in fünfzehn, sechzehn Metern Tiefe – und bis dort waren mehrere Gänge zu den Seiten zu erkennen.

Wie die Zwerge zu der Zeit, als Tiefwasser noch in Benutzung war, im Schacht auf und ab stiegen, war nicht mehr zu erkennen. Was nicht längst verrottet war, mußten die Zwerge schon bei ihrem Aufbruch abgebaut und mitgenommen haben, und so nützlich jetzt eine funktionierende Fahrkunst gewesen wäre, mußte doch ein gewöhnliches Seil herhalten. Obwohl Kevron sich nicht nur als Nichtschwimmer, sondern auch als Nichtkletterer zu erkennen gab, schafften sie es alle bis zum ersten Absatz, und daß die geheimnisvolle Inschrift an der Wand nur vor der verschlossenen Tür Schlafräume Sohle Eins hieß, sollte dem Abenteuer keinen Abbruch tun: Thorim und Kevron übersetzen es großzügig mit Achtung! Gefahr’! Teufel und/oder Dämonen!. Daß die anderen kein Zwergisch konnten, war ihre eigene Schuld… Dafür konnte Sargas Schlösser knacken, und wenn auch jemand in der Vergangenheit mit Äxten auf die Tür vergebens eingeschlagen hatte, war sie nun, zum ersten Mal seit hundert Jahren, offen.

Man kann sich die Freude der Zombies lebhaft vorstellen. Wie lange hatten sie gewartet, daß sich endlich die Tür zu ihrem Gefängnis öffnete! Freiheit! Hirne! Und gleich fünf Stück von der Sorte! Vergessen war die Langsamkeit, die man von Zombies sonst gewöhnt ist, das schlappe Schlurfen: Diese untoten Zwerge stürzten sich auf die Gefährten, als gäbe es nichts anderes. Man muß es ihnen gönnen. Die Freude, erwartungsgemäß, währte nicht lang. Noch nie hatte es ein Gegner oder eine Gruppe davon lange gegen die Pfadfinder ausgehalten, und auch diesen Zombies war ein Sieg verweigert. Auch wenn Kevron sich vornehm zurückhielt und fand, daß seine hochgradigen Zauber gegen diese Gegner verschwendet wären und sich darauf konzentrierte, der wie üblich stark angegriffenen Karza ein wenig Rückendeckung zu geben, war der Kampf schnell gewonnen. Da dauerte es fast länger, die arme Halborkin im Anschluß zu verarzten: Das soll vorkommen, wenn man ohne Kleriker unterwegs ist und die einzige Heilmöglichkeit ein Zauberstecken ist, den außer den Waldläufer niemand benutzen kann. Aber egal: Sie hatten gesiegt – unter anderem, weil Sargas ein wahres Feuerwerk der Magie auf die Gegner prasseln ließ, die Zombies mit Burning Hands ansengte und sie anschließend mit Klauen, die er sich wachsen ließ, in Stücke riß: Und da außer Kevron noch niemand von der Metamorphose des Schurken wußte, warf das im Anschluß doch einige Fragen auf.

Während sich Kevan entschuldigte und zurückzog, da seinen Spieler eine dicke Erkältung quälte, durchsuchten die anderen die jetzt zombiefreien Räumlichkeiten. Zwei Dinge fielen dabei auf: Zum einen war da der große Kamin, der nach hinten auch an den Abzug der untereren Ebenen angeschlossen war, und von dort roch es nach Rauch. Ja, irgendwo da unten brannte ein Feuer. Und weil das keine hundert Jahre lang vor sich hin brennen würde, hieß das, da unten war jemand. Also doch ein untoter Magier mit Mäusephobie? Oder doch lieber ein Zwerg am Schmiedefeuer mit einem großen Hammer in der Hand? Denn es hämmerte. Wenn man genau hinhörte, hämmerte es irgendwo da unten. Nicht regelmäßig genug, um eine Maschine zu sein – da war jemand. In einer seit hundert Jahren verlassenen Zwergenmiene war jemand und hämmerte. Oder war das alles nur Einbildung?

Schließlich entdeckte Sargas noch ein Geheimfach, und Kevron fand heraus, wie es zu öffnen war: Leider waren dann dahinter doch keine Reichtümer und Schätze, und auch keine Treppe, die zu dem unheimlichen Hämmerer in die Tiefe geführt hätte, nur zwei eng beschriebene Seiten aus einem zwergischen Tagebuch. Es beschrieb, wie der ursprünglich umgeleitete Fluß plötzlich zurückkehrte, wie eine Expedition von vier Zwergen plötzlich verschwand, ein Priester dem Wahnsinn anheimfiel… Nicht unbedingt das, was man über die Binge, die man gerade besichtigt, lesen möchte, es sei denn, man ist ein Abenteurer. Einhundert Zwerge hatte damals in Tiefwasser gelebt – und auch, wenn die Mine aufgegeben und verlassen wurde, sind diese einhundert Zwerge doch nie wieder aufgetaucht. Sie verschwanden spurlos. Und selbst wenn man jetzt sechs von den Hundert abziehen konnte, die Zombies würden niemandem mehr etwas tun, konnte selbst die Halborkin ausrechnen, daß da noch vierundneunzig übrig blieben. Vierundneunzig mutmaßlich untote Zwerge, angeführt von einem wahnsinnigen Kleriker (mit Mäusephobie) – und die Gefährten waren nur zu fünft. Es war der Moment, um aufzubrechen und ganz schnell den Heimweg anzutreten.
Es sei denn, man war ein Held.

Also taten sie genau das Gegenteil: Sie machten sich an die Erkundung. Die Bergbaustollen der Sohle Eins waren weitläufig, aber nicht besonders aufschlußreich. Man konnte sehen, wo einst Schienen gelegen hatten und Loren gefahren waren, aber primär war das hier doch ein Dungeon und kein Bergbaumuseum, und so wandten sich die Gefährten wieder dem wassergefüllten Schacht zu und ließen sich eine Ebene weiter hinab. Sohle Zwei bot das gleiche wie Eins, nur ohne Schlafsaal und Zombies – das Tagebuch hatte davon gesprochen, daß manche Bereiche mit magisch eingezogenen Steinwänden verschlossen wurden, und an dieser Stelle konnte das geschehen sein. Es gab also erst mal keinen Zugang, denn schweres Werkzeug, Sprengstoff oder destruktive Magie hatten die Pfadfinder natürlich zuhause gelassen. Aber in der Richtung, aus der sie weiter oben das Hämmern gehört hatten, gab es keinen Zugang. Und auch das Hämmern war hier unten nur noch zu erahnen.

Weiter zu Sohle Drei. Die lag jetzt nicht nur dicht über dem Wasserspiegel – die Spuren verrieten sogar, daß dieser Bereich einmal ganz unter Wasser gestanden haben mußte. Warum und wovon das Wasser dann wieder zurückgegangen war, das konnte keiner sagen – aber solange es noch eine trockene Ebene zu besichtigen gab, war das ja auch egal. Und danach konnte immer noch einer von den Schwimmern in den Abgrund hinabgelassen werden oder Kevron sich in ein Unterwassergeschöpf verwandeln, um mehr zu wissen. Erstmal also Sohle Drei… Während die Fünf vorsichtig den Gang entlang schlichen – Karza voran, denn die konnte zwar keine Fallen finden, hatte aber die größte Wahrscheinlichkeit, eine zu überleben – hatte Sargas, der das Schlußlicht bildete, das ungute Gefühl, daß ihnen ein Schatten folgte. Er warnte die anderen, sie leuchteten in die Richtung, aber es half nichts: Das, was ihnen da folgte, war ein Schatten und blieb ein Schatten, was ihn leider nicht davon abhielt, anzugreifen.

Plötzlich hatten sich die Fronten vertauscht: Da half keine Armbrust, keine Axt, da half kein Schwert, keine gewöhnliche Waffe war in der Lage, dieses körperlose Geschöpf auch nur anzukratzen. Nur Magie konnte etwas ausrichten, sonst nichts – und war es nicht ein Glück, daß die Gruppe jetzt zwei Zauberer hatte, oder zumindest anderthalb? Und so war es Kevron, ausgerechnet, der plötzlich ganz vorne stand und versuchen mußte, seinen Gefährten das Ding vom Hals zu halten, dessen Berührung allein reichte, um einem Sterblichen die Körperkraft abzusaugen. Gut, daß er sich im Kampf gegen die Zombies seine mächtigeren Zauber aufgespart hatte, sonst hätte auch er jetzt alt ausgesehen. Aber zum Glück konnte Sargas die Klauen, die er sich wachsen ließ, mit Magie verstärken. Und zum Glück hatten Kevrons Magische Geschosse eine Treffergarantie, auch an körperlosen Wesen… Es war kein leichter Kampf – Sargas’ Krallen hielten nur noch für drei Runden, und mehr als drei Zauber konnte Kevron nicht mehr sprechen, aber in der allerletzten Sekunde kam das, womit schon keiner mehr zu rechnen wagte: Der Schatten verschwand im Nichts.

Es war der Abschluß eines anstrengendes Tages. Kämpfen, Klettern, Zaubern – jeder der Fünf war am Ende seiner Kräfte, vor allem Thorim, der einiges an Körperkraft eingebüßt hatte, und Kevan, den seine Nebenhöhlen in die Knie zwangen. Und so entschieden sich die Gefährten, zu ihren Pferden zurückzukehren und für ein, zwei Tage zu verschnaufen, ehe es weiterging. Denn weitergehen würde und mußte es. Schon allein, um herauszufinden, wer oder was da in der Tiefe hämmerte.

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